Dieser Blogartikel ist Folge 5 einer Neuauflage der „Nordlichtpost“ – einer exklusiven Newsletter-Serie rund um die Veröffentlichung meines Romans „Eismusik – Fridtjof Nansens größte Liebe„. Alle Folgen auf einen Blick hier.
Zwischen „Du“ und „Sie“ in Norwegen
Heutzutage wird in den skandinavischen Ländern weitgehend geduzt. Ob Freunde, Bekannte, Führungskräfte, Staatsoberhäupter oder die Polizei, alle spricht man mit Vornamen an. Einzige Ausnahme ist die königliche Familie.

Doch das war nicht immer so. Noch Ende des 19. Jahrhunderts war es in der gehobenen Gesellschaftsschicht – der sowohl Eva als auch Fridtjof Nansen angehörten – absolut üblich, dass man, ähnlich wie heute noch in Deutschland, zwischen dem »Sie« und dem »Du« unterschied.
Einblicke in die historische Kommunikation
Ein deutschsprachiges Lesepublikum erlebt also bei der Lektüre meines Romans „Eismusik“ keinen größerer Bruch in der Wahrnehmung der Anrede. Hier ein Brief von Henrik Ibsen aus dem Jahr 1899:

Weiter unten findet ihr eine Leseprobe aus „Eismusik„, wo ich eine Ruderpartie auf dem Oslofjord beschreibe und das, was sich an daraus ergibt. 💕
Doch zuvor zum Verständnis noch eine andere Hintergrundinfo: Ich habe Fridtjofs Vornamen für den Roman abgekürzt. Warum, das erkläre ich hier.
Ikonen im Alltag
Dass Fridtjof Nansen einen Rufnamen hatte, ist nicht historisch verbürgt. Es ist aber durchaus anzunehmen, dass ihn seine Eltern und Geschwister, seine Freunde und auch Eva im Alltag nicht bei seinem vollen Taufnamen nannten.
Ich habe dazu recherchiert und zB auch Rücksprache mit meiner norwegischen Autorenkollegin Monica Isakstuen gehalten: Gängige Abkürzungen des Namens Fridtjof wären im Norwegischen zum Beispiel »Joffe«, oder »Joffen«, etwas seltener auch »Frido«.

Warum „Frido“?
Ich habe mich für die in Norwegen etwas seltenere Variante „Frido“ entschieden, weil diese in deutschsprachigen Ohren am wenigsten fremd klingt. Und warum überhaupt ein Spitzname? Ganz einfach: Ich wollte den Menschen hinter der Legende hervorlocken.
Wenn man über Berühmtheiten schreibt, die auch noch einen »ikonischen« Vornamen mit hohem Wiedererkennungswert tragen (Marilyn, Coco, Napoleon), steht einem dieser manchmal ein wenig im Weg, wenn man der Figur ganz nahekommen will.
Ein Spitzname fungiert dann als eine Art Empathie-Verstärker: Mit Frido springt man ins Eismeer, lebt, liebt und leidet mit ihm und kann den hochoffiziellen Nansen vergessen, dessen Polarheldenleben schon in jedem Was-ist-Was-Band verzeichnet ist.
So, und damit seid ihr jetzt bestens gerüstet, um euch an Evas Seite von einem jungen und sehr „gockeligen“ Frido über den Fjord rudern zu lassen, zum festlichen Geburtstagspicknick von Professor Henrik Mohn!
👇 Hier unten die Leseprobe:

***
1888 bei Kristiania
Zu dem Inselchen vor Bygdøy waren es kaum zweihundert Meter. Und obwohl sie ganz allein in dem Kahn saßen: Die gesamte Festgesellschaft konnte sie sehen, ihre Situation war unverfänglich. Nun, so muss ich ihn wohl ertragen, dachte Eva.
Bestimmt würde er ihr wieder von Grönland erzählen – wie auch anders, die ganze Stadt witzelte über seinen Plan. Sollte er doch zum Kuckuck gehen, dieser Größenwahnsinnige!
Zugegeben, die Lachfältchen um seine Augen hatten etwas Gewinnendes, und das Spiel seiner Muskeln unter der schmal geschnittenen Jacke ließ sich kaum ignorieren. Vorsichtig erwiderte Eva das Lächeln ihres Ruderers, da warf sich dieser prompt in die Brust.
»Sie können mich ab morgen übrigens Doktor Nansen nennen, wenn alles nach Plan geht. In aller Frühe stehe ich dann vor der Promotionskommission.« Er grinste sie an. Offensichtlich war er weibliche Bestätigung gewohnt und wartete auf Evas bewundernden Kommentar. Nun, da konnte er lange warten!
»Soo? Morgen wollen Sie Doktor sein?«, versetzte sie herablassend. »Dann sind Sie’s heute aber noch nicht.«
»Touché.« Er lachte übermütig und griff wieder nach den Rudern. Gleichzeitig begann er eine oberflächliche Unterhaltung über Kristianias schöne Lage, die besten Angelplätze am Fjord und den Zauber der warmen Monate.
Zuerst sträubte sich Eva gegen das in ihren Augen nichtige Geplänkel, dann ließ sie sich jedoch darauf ein. Je reibungsloser diese Überfahrt verliefe, desto schneller wäre sie den Gockel wieder los und könnte auf Distanz gehen. Ja, das war entscheidend: Fridtjof Nansen auf Abstand zu halten.

Während er ruderte, hockte sie auf der Bank im Heck und ließ den Blick schweifen. Der Kristianiafjord funkelte im Sonnenlicht, die Wiesen am Ufer waren übersäht von Wildblumen. Von den Booten der anderen Gäste einige Dutzend Meter voraus kamen Gelächter und muntere Rufe – das auffallend warme Wetter sorgte auch dort für Frühlingslaune.
Sie glitten lautlos durch das flaschengrüne Wasser. Es glitzerte und lockte Eva, hineinzugreifen. Ach herrje, eiskalt! Erschrocken zog sie ihre Hand zurück, was ihr Begleiter mit einem breiten Grinsen quittierte. Verflixt, er sollte ihr bloß keine schönen Augen machen!
»Was ist das eigentlich für ein Aufzug, Herr Nansen?«, beeilte sich Eva zu fragen.
»Welcher Aufzug?«
»Na, diese eigenartige Bekleidung, die Sie stets tragen.«
»Wollen Sie mich wirklich nicht Frido nennen?«
»Ehem … Frido. Also …« Eva überlegte schon jetzt, wie sie jede weitere direkte Anrede vermeiden konnte. »Diese Jacke, die Hose, alle diese Kleidungsstücke, die sind ja schon recht … außergewöhnlich.«
»Oh, ja! Aber auch außergewöhnlich praktisch und passend für meine Zwecke. Haben Sie schon von Gustav Jaeger gehört, dem deutschen Bekleidungshygieniker?«
Als Eva verneinte, lieferte Nansen ihr eine begeisterte Beschreibung der wollenen Anzüge, die jener Arzt namens Jaeger entworfen hatte.
Während er von der Qualität des Wollstoffs schwärmte, studierte Eva sein ebenmäßiges Gesicht, die kräftige Nase, den blonden Schnurrbart. Den stattlichen Rest seiner Erscheinung versuchte sie auszublenden. Fridtjof Nansen sah in der Tat nicht danach aus, als würde er seine Forschungen nur im Labor und am Schreibtisch betreiben.
»Auch nach Grönland nehme ich Jaeger-Kleidung mit«, erklärte ihr Gegenüber in diesem Moment und holte sie aus ihren Überlegungen zurück.
»Und das hält wärmer als Pelz?«
Nansen machte eine wegwerfende Geste. »Vor allem lässt es den Körper atmen. Darauf kommt es doch an, wenn man sich per Ski bewegt. Ja, diese deutschen Ärzte verstehen sich auf Zweckmäßigkeit. Überhaupt: Deutsche Forschung …« Er strahlte Eva an. »Kennen Sie das Institut von Anton Dohrn?«
Diese erinnerte sich vage an eine Bemerkung ihres Bruders. »Zoologie?«, tippte sie, und Nansen nickte.
»Ich war dort im vorletzten Sommer. Es befindet sich allerdings nicht in Deutschland, sondern unter südlicher Sonne am Golf von Neapel. Waren Sie schon einmal in Italien, Fräulein Sars?« Ihr Kopfschütteln reizte ihn zu einem Ausruf des Erstaunens.
»Aber das sollten Sie! Es ist der reinste Garten Eden. Ach, wenn ich Sie Ihnen nur zeigen könnte, die großartige Fauna des Mittelmeers, die Aquarien, die Mollusken, Pantopoden und ihre Präparate …« Er hielt inne, bemerkte ihren verständnislosen Gesichtsausdruck und lachte.
»Verzeihen Sie bitte, manchmal geht der Forscher mit mir durch. Für eine Sängerin wie Sie wäre wohl die Oper Neapels reizvoller.« Nansens Miene hellte sich auf. »Ach, kennen Sie vielleicht ›Funiculì, funiculà‹? Ein bekanntes neapolitanisches Lied, in Italien singt es jedes Kind.« Unvermittelt stimmte er eine muntere Melodie an.
Er hatte eine gute Stimme, ungeformt zwar, doch mit warmem, vollem Klang. Eva erinnerte sich vage, dass ihr Bruder Nansens erstaunliches Zeichentalent erwähnt und gemeint hatte, dessen Studien zur Polarfauna könne man glatt ins Museum hängen. Und jetzt auch noch Musik? Gott bewahre, hat dieser Mann denn gar keine Schwächen außer seiner penetranten Selbstsicherheit?


***
Das wäre es für diesmal. Doch mein Roman „Eismusik“ trägt ja schon im Namen das Versprechen auf mehr als heiteres Geplänkel und Picknickidylle.
Und was erwartet euch in der nächsten Nordlichtpost?
Beim nächsten Mal nehme ich euch einmal mit auf Recherchereise – in Bild und Ton… 🎥 👩 🇳🇴 Ich freu mich drauf, ihr auch?
Herzlich, 👋 Angela
Hier die letzten Folgen der Nordlichtpost:
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