Angela Marina Reinhardt: „Der Ölkäfer“
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DER ÖLKÄFER
Samstag, 3. April 1920 in Meran
Jemand musste Franz K. verleumdet haben, denn als der Kurgast an seinem ersten Abend in Meran, noch gezeichnet von der Anreise und einem kurzen, unruhigen Schläfchen, im Speisesaal des Hotels »Frau Emma« einen Teller Schlutzkrapfen in Salbeibutter vorgesetzt bekam, gewahrte er im Innern seiner Speise einen Käfer.
Das Ungeziefer bewegte sacht seine abscheulichen Glieder und kroch im nächsten Augenblick unter ein gebratenes Salbeiblatt. Doch K. hatte die Kreatur an ihrer schwarzblauen Farbe und einigen anderen unverwechselbaren Merkmalen längst erkannt: Meloe proscarabaeus, ein Artverwandter der spanischen Fliege. Sein Körper enthielt hochgiftiges Cantharidin, das einen binnen Minuten in qualvoller Agonie dahinraffte. Und vielleicht bedeutete bereits eine flüchtige Berührung den Tod?
Dem entsetzten K. entfuhr ein Zischen. Doch niemand sonst im Speisesaal schien seine Notlage zu bemerken. Die Abendsonne drang durch die hohen Fenster des Speisesaals und tauchte die eingedeckten Tische mit ihrem Porzellan und dem cremefarbenen Damast in sanftes Gold. Alle Plätze waren besetzt, man speiste und plauderte in gedämpften Ton. Franz K., der allein angereist war, hielt sich abseits an einem Einzeltisch. Obwohl niemand seine Gesellschaft zu suchen schien und es für jeden Außenstehenden so wirken mochte, als wäre der Versicherungsbeamte und promovierte Jurist Dr. Franz K. in Meran gänzlich unbekannt, so lieferte ihm der Ölkäfer den bereits bang erwarteten Beweis: Seine Feinde waren längst da.
*
Auf den Schreckenslaut des Gastes am Einzeltisch reagierte nur die junge Aushilfsbedienung, Fräulein Sofie Haller. Mit Blick auf K.’s erstarrte Miene eilte sie an seinen Tisch.
„Der Herr Doktor wünschen?“ Den Gepflogenheiten der neuen Herren im südlichen Tirol hätte als Anrede ein einfaches »Signore« durchaus gereicht. Doch Sofie, als Kind zweier Kulturen, konnte die Titelwut des alten Österreich noch nicht ganz abschütteln. Und K. hielt zwar seit seiner Ankunft das Hotelpersonal mit manchem Sonderwunsch auf Trab – etwa nach streng vegetarischer Kost, gedünstetem Gemüse zum Frühstück oder einem uneinsehbaren Balkon. Aber er besaß eindeutig Klasse und formulierte jeden Wunsch mit ausgesuchter Höflichkeit. Zudem weckte die offenkundige Hinfälligkeit des zartgliedrigen Mannes in Sofie fast mütterliche Instinkte.
»Das … in meinem … «, hauchte K. jetzt und wies auf seinen Teller. Dort stapelten sich zwei Dutzend der ortstypischen Teigtaschen, die Sofies italienische Mutter ob ihrer Form mezzelune nannte, kleine Halbmonde. Weder am Halbrund der Teigwaren noch an dem sie begleitenden Salbeigrün zeigte sich etwas Ungewöhnliches.
»Stimmt etwas nicht mit ihrer Speise?« Sofie schlug einen behutsamen Ton an. Zweifellos litt ihr Gast an einer Art übersteigerte Empfindsamkeit. Noch vor dem Krieg hatte man die Neurasthenie in Meran zuhauf gesehen, meist bei Poeten, Philosophen oder polnischen Prinzen. Der Eindruck von Zerbrechlichkeit wurde noch verstärkt durch K.s schmalrandige Brille und seine Angewohnheit, ständig in ein kleines Notizbuch zu kritzeln, das auch jetzt wieder aufgeschlagen neben dem offenbar höchst verdächtigen Teller lag. Nun, es konnte ihr gleich sein – ein Gast war stets König und ihre Stellung im Hotel Emma alles andere als gesichert. »Wünschen der Herr Doktor vielleicht etwas anderes? Ist etwas nicht zur Zufriedenheit?«
»Zufriedenheit?? In meinem Gericht, da ist ein ungeheures, ein … « K. ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen und sackte in sich zusammen. Sofie hatte kaum Gelegenheit, die verdächtigen Schlutzkrapfen zu inspizieren, da murmelte er: »Ich habe es gewusst.«
»Hm, also … ich sehe erst einmal nichts.« Sofie schwankte zwischen Verwirrung und Skepsis. »Und, bitte verzeihen Sie, was meinen Sie mit ›ich habe es gewusst‹?«
K. seufzte resigniert. »Dieser Käfer ist nur der Anfang. Am Ende wird man mit mir kurzen Prozess machen. Und … ich habe das immer gewusst. Ich habe darüber geschrieben, wissen Sie? Die Kunst nimmt das Leben vorweg, und ich kann nichts dagegen tun. Gar nichts … «
K. wirkte so elend, dass es Sofie in der Seele wehtat.
»Herr Doktor, ich werde die Sache in ihrem Sinne klären. Ein Käfer? So etwas wäre ja ein Unding.«, versicherte sie und griff sich den Teller. Dann sammelte sie all ihren Mut zusammen und begab sich in die Hotelküche und damit in die Höhle des Löwen.
Denn dort herrschte Leonardo Bacco. Ein grobschlächtiger Kerl, von seinen Untergebenen hinter vorgehaltener Hand ‚Leo der Schreckliche‘ genannt. Seit Kriegsende hatte der Trentiner das Sagen in der Hotelküche, und mit ihm hatte sich der ohnehin raue Ton zwischen Töpfen und Pfannen noch einmal verhärtet. Kaum jemand wagte, dem Chef zu widersprechen, zu gut schienen seine Verbindungen zur neuen italienischen Stadtverwaltung. Auch die Hoteliersfamilie stützte ihn, obwohl der Mann mit seinem Jähzorn und seiner Nähe zu den erstarkenden Faschisten kaum zu ertragen war. Doch Bacco kochte einfach zu gut. Und in diesen elenden Zeiten konnte man froh sein, überhaupt Fachpersonal zu finden. So lebte die Küchenbrigade also unter Baccos Knute und es sah nicht so aus, als würden sie ihn so schnell loswerden. Selbst als eine junge Spülhilfe, der Bacco offenbar seinen Willen aufgezwungen hatte, nur knapp daran gehindert werden konnte, sich in der Speisekammer aufzuhängen, blieb das ohne Konsequenzen. Sofie wusste genau, dass auch sie sich vor Bacco hüten musste. Deshalb lag ihr der Teller mit den Schlutzkrapfen auch wie Blei in der Hand, als sie jetzt durch die Schwingtür trat, in einer Mission, vor der selbst gestandene Männer zurückgeschreckt wären.
*
Im Dunst der Küche herrschte geschäftiges Treiben. Köche, Feinbäcker und Spülkräfte eilten zwischen den Stationen hin und her, streng überwacht von ihrem allmächtigen Herrn, der im Zentrum des Geschehens breitbeinig vor einem Hackbrett stand und mit präzisen Beilschlägen ein paar Koteletts zurechtschlug. Küchenchef Bacco wandte Sofie den Rücken zu, doch selbst auf die Entfernung hin gewahrte sie die Spannung in seinem kräftigen Nacken und las in seinen Bewegungen die Lust am Zerteilen des rohen Fleisches.
Also gut, gehen wir es an …
Sofie schob sich hinter Bacco und platzierte den Schlutzkrapfenteller neben das Hackbrett auf die Ablage. »Es gibt eine Reklamation, chef. Ein Gast sagt, er habe in seinem Gericht etwas gesichtet. Etwas, hmm, mit dem er nicht gerechnet hat….«
Der Küchenchef fuhr herum, das Beil locker in der Hand. »So?! Welcher Gast denn? Der aus Prag?«
Wie konnte Bacco so schnell wissen, von wem sie sprach? Sofie wollte gerade antworten, da wurde sie grob unterbrochen. »Jetzt mach es kurz, womit hat der Depp nicht gerechnet?«
In Baccos wässrig blauen Augen glomm Jähzorn auf und Sofie geriet ins Stottern. »Naja, er … er rechnete nicht mit einem, hm, sicher nur klitzekleinen … Käfer?«
Ihr Gegenüber erstarrte. »Eine Kakerlake??«
»Nun, also … «
»Also WAS?! Eine Kakerlake soll da sein?!« Das Glimmen in Baccos Blick geriet zu irrem Lodern. Jeder im Hotel fürchtete diesen Moment. »Und … ist sie ihm etwa zu klein, diese Kakerlake? Verlangt er eine größere oder was?!?«
»Er … er ist Vegetarier«, stotterte Sofie in heilloser Verwirrung. »Aber das ist doch nicht das Problem, es-»
Das Fleischbeil donnerte direkt neben Sofies Hand ins Brett, nur Millimeter von ihren Fingern entfernt.
»Che Infamità! Der Kerl ist Vegetarier?? Das ist keine Entschuldigung für eine so groteske Lüge! In meiner Küche gibt es keine Kakerlaken?!«
Sofie wagte nicht, ihren Blick zu heben. »Verzeihung, ich wollte nur … Ich habe dem Herrn auch bereits versprochen, ihm einen neuen Teller zu bringen.“
Bacco stierte sie einen langen Moment an, dann schnaubte er verächtlich und entließ Sofie zu ihrer eigenen Überraschung ohne weitere Maßregelung. »Vai vai, hol dir Ersatz und verschwinde! Dieser Depp hat sich das nur eingebildet, es ist nichts als ein Hirngespinst. Sag ihm das: reine Einbildung! Aber gut, er soll seinen neuen Teller kriegen…« Er widmete sich wieder seinen Koteletts. »Und nicht nur das«, kam es dumpf zwischen Beilschlägen. Sofie hoffte sehr, sie hätte sich verhört.
*
Auf halbem Weg zurück in den Speisesaal nahm sie sich vor, die unerfreuliche Angelegenheit zu einem guten Ende zu bringen. Immerhin brachte sie jetzt Schlutzkrapfen mit, von deren Harmlosigkeit sie sich beim Anrichten persönlich überzeugt hatte. Ein erneuter Angriff auf Franz K. war damit vorerst abgewendet.
Dieser saß wie zuvor still in der Ecke und kritzelte in sein Notizbuch. Kaum merklich verändert hatte sich dagegen die Atmosphäre im übrigen Saal. Sofie hatte das Gefühl, dass ihr die Blicke der anderen Gäste folgten und sie hätte schwören können, dass diese verstohlene Blicke tauschten. War ihnen der Grund für die Beschwerde ihres Gastes aufgefallen? Erwarteten auch sie Käfer in ihrem Menü? Oder ging es doch um etwas ganz anderes?
Am Einzeltisch angelangt, erklärte Sofie dem immer noch totenblassen K. betont munter, man habe das Gericht ausgetauscht. Dann entschuldigte sie nochmals ausdrücklich für alles Ungemach. »Ihnen wünsche Ihnen nun einen guten Appetit, Herr Doktor, diese Schlutzkrapfen können sie unbesorgt essen.«
»Das werde ich tun«, murmelte K. Hatte ihm zuvor noch der Schrecken ins Gesicht geschrieben gestanden, zeigte er nun die Miene eines Todgeweihten auf dem Weg zum Schafott. »Was bleibt mir auch anderes übrig. Der Schuldspruch ist gefallen.«
»Aber Herr Doktor, ich verbürge mich dafür, dass-«
K. hob die Hand und lächelte traurig. »Ich weiß, es ist nicht ihre Schuld, Fräulein Sofie. Doch wie ich erwähnte, habe ich über dies alles geschrieben. Und dass es nun geschieht, denke ich, ist ein Zeichen.«
»Ein Zeichen?«
»Ganz recht, ein Zeichen.«
Ohne weitere Erklärung griff K. nach seinem Besteck und widmete sich mit stiller Sorgfalt seinem Mahl. Sofie indes wurde an den Tisch eines Marchese aus Rom gerufen, der seit (zwei) Wochen im Hotel logierte und sie bei jeder Gelegenheit mit seinem öligen Charme verfolgte. Ansonsten verlief das Essen ohne weitere Zwischenfälle, und nachdem sie sich bei K. erkundigt hatte, ob es ihm geschmeckt habe (was er bejahte) und ob er vielleicht noch ein Dessert wolle (was er ablehnte), da brachte sie ihm die Rechnung und hoffte, wenn schon nicht auf ein Trinkgeld, so doch wenigstens auf einen guten Abschluss dieser anstrengenden Schicht.
»Ich ziehe mich nun zurück«, murmelte K., als er seine Signatur unter die Rechnung setzte, »mir war entfallen, dass ich noch einige Briefe zu schreiben habe.«
Er hörte kaum zu, als Sofie ihm eine gute Nachtruhe wünschte und murmelte etwas von einer »Milena«, der er unbedingt noch von seiner Ankunft erzählen wolle. Dann verließ K. ohne weitere Umschweife den Speisesaal. Doch so unauffällig er sich auch gab, Sofie bemerkte, wie ihm verstohlene Blicke folgten.
Herrschaftszeiten, was für ein Abend?! Hat der Mann womöglich recht, will man ihm Böses? Aber warum?
Sofie Haller, Spross einer alten Tiroler Gastwirtsdynastie, straffte die Schultern. Mochte sie im Moment auch die bescheidenste Aushilfe im Hotel Emma sein, sie hatte ihre Ehre als Wirtin – und sie würde nicht zulassen, dass man ihre Gäste bedrohte.
*
Am nächsten Tag, einem Sonntag, besuchte Sofie erst die Messe und dann ihren Verlobten Gaetano Forli im Ristorante Milano. Das Lokal gehörte Forlis gichtkrankem Onkel, der seinen einzigen Neffen, der vom Isonzo heimgekehrt war, dort nach Belieben schalten und walten ließ. Keine schlechte Sache, wenn das Milano nur etwas mehr abgeworfen hätte. Selbst ein glühender Sozialist wie Forli konnte damit nicht zufrieden sein. Aber von den Hiesigen hatte kaum jemand das Geld, um auswärts zu essen, und nur zögerlich kamen die ersten Touristen zurück.
Der Krieg hatte Meran schwer gezeichnet. Viele Lebensmittel waren weiterhin rationiert. Und zahllose Kriegsheimkehrer ließen sie noch fast wie in den Jahren erscheinen, wo Meran als Lazarettstadt gedient hatte, mit Feldbetten in Ballsälen und Operationstischen unter vergoldetem Stuck. Vom alten Glanz der Kurstadt war nicht viel geblieben und von den Hotels ersten Ranges hatte allein das »Frau Emma« wiederaufgemacht.
Sofie und ihr Verlobter waren also gezwungen, jeden Zehner zu sparen und meist getrennt voneinander zu arbeiten. Aber nur noch ein paar Jahre, versicherten sie sich, nur noch ein paar Jahre, dann würden sie das Milano übernehmen und es würde, wie der Rest der Stadt, in neuer Pracht erstrahlen. Bis dahin begnügte sich Sofie damit, bei Forli vorbeizuschauen, wann immer es ihre dienstfreien Stunden erlaubten. An diesem Tage allerdings wurde sie direkt nach dem Begrüßungskuss mit einer Rüge empfangen.
»Du warst in der Kirche? Wie sollen dich die Genossen denn so ernst nehmen! Erinnere dich: wie nennt Lenin die Religion? Er nennt sie das Opium des Volkes! Und wenn du es ernst meinst mit deiner Begeisterung für die Einheit aller Proletarier – und das hoffe ich doch! – dann solltest du da nicht mehr hingehen.«
Sofie, die es vor allem mit ihrer Begeisterung für ihren hübschen Verlobten ernst meinte, gelobte Besserung und erklärte, in der Kirche sei sie nur wegen der Großmutter gewesen. »Die Nonna hat mich doch immer mitgenommen, in die Kirch’, und ich vermisse sie im Frühling noch mehr als sonst. Im Mai sind’s fünf Jahre…« Sie saßen in einem Hinterzimmer des Lokals und Sofie griff nach Gaetanos Hand. »Nun lass uns über etwas anderes reden, ja? Es gibt Neuigkeiten aus dem Hotel, etwas, das mir Sorgen macht … und vielleicht weißt du einen Rat?«
Sie berichtete von K. und dem Vorfall mit dem giftigen Käfer. Sie berichtete auch von Baccos Ausbruch und dem Gefühl der Bedrohung, das sie nicht nur in der Küche, sondern auch im Speisesaal empfunden hatte. Und dass ihr Gast mehr als sicher zu sein schien, dass man ihm nach dem Leben trachte. »Ich will nicht hilflos zusehen, wie dort vielleicht in aller Seelenruhe jemand ermordet wird«, schloss sie. »Deshalb hatte ich auf Dich und deine Kontakte gehofft. Könnte der Mann recht haben? In der Zeitung, wenn es sie mal gibt, liest man doch pausenlos von Spionen in der Stadt, von Anarchisten, Agitatoren, Revolutionären …«
Forli musterte sie nachdenklich. »Wie hieß dein Prager Gast nochmal?«
Sofia nannte den Namen.
»Und Du sagst, er gibt sich als Versicherungsbeamter aus?
»So zumindest hat er sich in die Meraner Fremdenliste eingetragen.« Sofie rief sich die Szene mit dem Käfer ins Gedächtnis. »Vielleicht wird er ja auch … ich weiß nicht, irgendwie verfolgt?«
Forli rieb sich das Kinn. »Es ist nicht so, dass ich von jemandem aus Prag wüsste. Aus Russland, ja, unser Zentralkomitee weiß von einem Konterrevolutionär, brandgefährlich, der unter dem Deckmantel der Kur in Meran allerlei rechtes Gesindel um sich schart. Aber Bacco würde doch eher einen Bolschewiken angehen, nicht einen aus dem eigenen Lager? Und überhaupt aus Prag?«
Forli blickte skeptisch, und Sofie beeilte sich hinzuzufügen. »Mein Gast fürchtet sich zu Tode, dessen bin ich mir sicher. Er macht zwar nicht den Eindruck eines Revolutionärs, wirkt eher zart, fast hinfällig! Doch vielleicht wurde er Opfer einer fatalen Verwechslung? Und was Bacco angeht: Du kennst seine Gesinnung, du weißt auch, wie verrückt der Kerl ist. Und er hatte wieder dieses Glitzern in den Augen, dasselbe Glitzern wie-«
»Also, dass Direktor Berger den überhaupt eingestellt hat!«, schaltete sich die Köchin des Milano ein, Beatrice. Sie stellte Forli einen Teller Pasta hin, die Stimme gepresst vor unterdrückter Wut.
»Lass gut sein, Bea«, meinte der, »die Leute vom Emma müssen auch schaun, wo sie bleiben. Und Bacco hat exzellente Beziehungen: Die Gattin des Zivilkommissars ist seine Tante und es heißt, sein Draht nach oben sei soo kurz.« Forli ließ nur wenig Platz zwischen Zeigefinger und Daumen. »Der Hoteldirektor und die Eignerin, Frau Hellenstainer, sind darauf angewiesen, Kontakt zu denen zu halten, die hier in der Stadt nun das Sagen haben. Und bei allen politischen Differenzen – ich kann es Ihnen nicht verdenken. Zumal Baccos Kochkunst außer Frage steht.«
Achselzuckend griff Forli nach seinem Wasserglas und trank mit einer Ruhe, dass es Sofia schon ganz fuchsig machte. Sie erhob sich vom Tisch und nahm ihre Tasche, in kaum einer Stunde begann ihre nächste Schicht. »Va bene, und was mache ich jetzt mit meinem Gast? Ich könnt’s nicht verwinden, wenn ihm tatsächlich was zustöße, weil Bacco irgendeine Teufelei ausheckt.«
Nachdenklich betrachtete Forli seine Pasta, dann griff er entschlossen nach dem Besteck und begann, Nudeln mit Soße aufzuwickeln. »Beobachte, was passiert. Und halte dich von Bacco fern. Ich höre mich ein wenig um, und dann wird man sehen…«
Damit schob er sich ein Gabelladung Pasta in den Mund und das Thema war für ihn bis auf weiteres erledigt.
*
In den nächsten Tagen geschah nichts Außergewöhnliches im Hotel Emma, obwohl Sofie stets ein wachsames Auge auf ihren Gast hatte. Morgens gab es ein trotz der Versorgungslage regelrecht üppiges Frühstück mit Omelett, guter Butter und echtem Kaffee. Mittags wurde ein Imbiss serviert und abends ein dreigängigen Menü. Sofie, die zum Glück während der ganzen Woche Dienst hatte, brachte Franz K. das, was Chefkoch Bacco in seiner Hexenküche an Vegetarischem für ihn zauberte: Wurzelgemüse, Spinat mit Setz-Ei und Kartoffeln, Nudeln mit Apfelmus, gedünsteten Blumenkohl. Und nie wirkte eine Speise verdächtig oder schien K., der in stummer Ergebenheit stets alles aufaß, was sie ihm vorsetzte, nicht zu munden.
Auch von den anderen Gästen gab es keine Beschwerden, sondern im Gegenteil nur Komplimente zum Essen und dem Service. Der Marchese verstieg sich sogar zu der Forderung, von Sofie ein »menu privé« aufs Zimmer serviert zu bekommen, was Hoteldirektor Berger glücklicherweise an ihrer Stelle ablehnte und dem daraufhin erbosten Römer mit eisiger Höflichkeit erklärte, dass man in Meran viele schöne Dinge kaufen könne, seine Kellnerinnen jedoch nicht.
So verlief die Woche ohne weitere Zwischenfälle und Sofie gewöhnte sich immer mehr an den scheuen K. mit seiner Nickelbrille und dem unvermeidlichen Notizbuch. Und auch ihr Verlobter berichtete, er habe rein gar nichts Verdächtiges in Erfahrung gebracht, war sie versucht, ihr unterschwelliges Gefühl der Bedrohung als leichte Überreizung abzutun.
Doch als sie am dritten Tag beim Dessert auf K.’s gemurmelten Dank hin bemerkte, sie hoffe, es sei ihm nun klar, dass ihn niemand vergiften wolle, lächelte dieser nur und zuckte mit den Achseln. »Schauen Sie, Fräulein Sofie, nur weil ich ein wenig paranoid bin, heißt das nicht, dass sie nicht trotzdem hinter mir her wären.«
Und am späten Abend dann beobachtete sie kurz vor Dienstschluss, wie Leonardo Bacco im Hof hinter der Hotelküche ein irgendwie konspiratives Gespräch mit zwei externen Besuchern führte. Männer, in denen Sofie zwei stadtbekannte faschistische Schläger erkannte. Und da war ihre Sorge wieder da, und sie fürchtete, dass K. womöglich recht hatte. Vielleicht war man tatsächlich hinter ihm her?
*
Am folgenden Tag servierte Sofie ihrem Prager Gast eine Portion Pflaumenkompott auf der rückwärtigen Terrasse, wo K. unter einer blühenden Magnolie an einem der Tische saß und schwungvolle Schriftzüge auf das Briefpapier des Hotels warf.
»Wenn Herr Doktor einen Moment …« murmelte sie, einer spontanen Eingebung folgend.
»Ja?«
»Verzeihung, falls es nicht genehm ist, Sie haben ja einiges an Korrespondenz … « Sofie verwünschte still ihre Unbedachtheit.
»Ach nein, ich schreibe genug, wirklich genug! Journale, Notizen, jeden Tag Briefe, an meine Schwester und die Eltern, dazu Briefe an Freunde. Wissen Sie, beim Meraner Postamt begrüßt man mich schon mit Namen. Also, nur heraus mit der Sprache!« Er lächelte und Sofie wagte einen Vorstoß. »Es geht um den Vorfall mit dem … Ungeziefer in ihren Schlutzkrapfen.«
Ihr Gegenüber gab einen seltsamen Laut von sich, den Sofie erst verspätet als Lachen erkannte. »Ungeziefer ist das richtige Wort, wertes Fräulein. Sie können es nicht wissen, doch ich habe dieses Wort schon einmal benutzt. Vor einigen Jahren, in einer Geschichte, die mir nach einer Nacht voller schwerer Träume in den Sinn kam.«
»Sie schreiben Geschichten, Herr Doktor?« Sofie konnte ihr Erstaunen kaum verbergen. Gleichzeitg fiel ihr ein, dass Ihr Verlobter erzählt hatte, der erwähnte Konterrevolutionär werde vor allem aufgrund seiner Flugschriften verfolgt. Verstohlen versuchte sie das Geschriebene auf dem Tisch zu entziffern, kam über die Anrede und den Namen »Milena« jedoch nicht hinaus, da K. im gleichen Moment mit verlegener Miene alles an Papier auf einen Stapel zusammenschob.
»Vergessen sie mein Geschreibsel, es ist nichts, was irgendwen interessiert. Und was die Schlutzkrapfen angeht, so habe ich bestimmt übertrieben in meiner Sorge. Bitte wahren sie Stillschweigen über das Geschehene, es ist mir allzu peinlich.«
»Doch was ist, wenn Sie recht haben? Deshalb wollte ich mit Ihnen sprechen, Herr Doktor…«
»So?«
»Ja! Ich habe Sie gesucht, um Ihnen nahezulegen, vielleicht doch umzuziehen … in eine etwas kleinere, unauffälligere Unterkunft. Bitte halten sie meinen Rat nicht für unhöflich, er entspringt allein meiner Sorge um ihr Wohlergehen.«
»Aber warum sorgen Sie sich um jemanden wie mich? Einen völlig Fremden…«
Sofie suchte nach Worten, gab es dann auf und hob entschuldigend die Hände. »Sagen wir einfach, sie sind mein Gast. Und das Gebot der Gastfreundschaft nehmen wir Meraner sehr ernst.« Ihr Gegenüber betrachtete sie nachdenklich. »Nun, ich dachte eigentlich, ich hätte mich vielleicht doch ein wenig hineingesteigert. Wie ich schon sagte, fühle ich mich gern mal verfolgt.«
»Und sie sagten selbst, es kann auch zurecht sein.«
Im gleichen Moment betrat Hoteldirektor Berger die Terrasse, der seine übliche Nachmittagsrunde bei den Gästen machte. K. entließ Sofie mit einem geflüsterten Dank für das Kompott und ihr unerwartet offenes Zwiegespräch war jäh beendet. Doch noch am gleichen Abend kurz vor dem Essen, erfuhr sie vom Rezeptionisten, K. habe erklärt, er werde am nächsten Morgen abreisen, wohin, das wisse kein Mensch.
*
Und dann kam der Abend und die letzte Mahlzeit, die Sofies Schützling im Hotel einnehmen sollte. Es gab Schmorbraten und für K. einen Tomatensalat, der Speisesaal war nur halb gefüllt mit zwei englischen Damen, einem Schweizer Ehepaar – und natürlich dem unvermeidlichen Marchese.
Ähnlich wie K. schätzte auch dieser ein Dessert zum Abschluss des Menüs. Und diesmal gab es eine lokale Spezialität: Vinschger Schneemilch mit Nüssen und Schlagobers. Als Bacco Sofie nun mit schriller Glocke in die Küche rief und ihr mit einigen Verwünschungen das Dessert »für den Deppen aus Prag«, überreichte, verbunden mit dem Befehl, sich ja zu sputen und das Kunstwerk aus Eischnee und Zuckerwerk zu servieren, bevor es in sich zusammenfiele, da ließ sie sich nicht lange bitten und eilte los.
Mitten im Lauf allerdings ergriff sie Verwirrung gepaart mit einem Gefühl quälender Dringlichkeit und einem spontanen Impuls folgend brachte sie dieses Dessert dem Marchese und nicht ihrem Gast aus Prag.
Sofie hätte sich nicht erklären können, warum sie dies tat. Vielleicht nur aus dem Instinkt heraus, den zarten Körper von K. nicht mit zuviel Eischnee zu belasten, vielleicht einem Gefühl folgend, das ihr den Russen fast so unangenehm erscheinen ließ wie Küchenchef Bacco selbst. Doch wie auch immer: Sofie traf eine Entscheidung.
Und wurde dann, wie alle anderen im Saal, Zeugin einer zunächst irritierenden, dann verstörenden und schließlich grausigen Szene, in deren Verlauf der Marchese mit bleichem Gesicht aus dem Speisesaal zu den Waschräumen stürmte, wo er kurz darauf – im Beisein einiger Kellner, darunter der entsetzten Sofie, aber gottlob unbemerkt von den anderen Gästen – mit Schaum vor dem Mund zusammenbrach. Wie ein Käfer lag er dort auf dem Rücken, die Glieder krampfhaft in der Luft zuckend.
Und jede Hilfe kam zu spät.
Es gab eine Untersuchung unter den Angestellten des Hotels. Und einen flüchtigen Küchenchef, dessen man nicht mehr habhaft werden konnte. In der Zeitung würden Sofie und ihr Verlobter einige Tage später dann auch von der wahren Natur des Marchese erfahren und von seiner Verbindung nach Moskau. Nur warum Bacco und seine Hintermänner auf Gift statt einer einfachen Kugel gesetzt hatten, das blieb im Ungewissen. Sofie fragte sich auch, warum in aller Welt sie eben nicht den falschen Marchese als Ziel auserkoren hatten, sondern einen unbescholtenen Versicherungsbeamten aus Prag.
Ja, das hätte sie schon gern erfahren. Im Gegensatz zu ihrem Schützling, der alle Entwicklungen mit stoischer Gelassenheit aufnahm und dann wie geplant am folgenden Morgen das Hotel Emma verließ.
Sofie sah Franz K. nur noch einmal: bei seiner Abreise im Foyer, wo er ihr wortlos zunickte, bevor er durch die Drehtür verschwand. Und sie war sich immer noch nicht sicher, ob sie ihm nicht hätten sagen sollen, wem die vergiftete Schneemilch tatsächlich gegolten hatte.
*
Eine Woche später, Pension Ottoburg, Untermais bei Meran
Franz K. ahnte mehr, als dass er wusste, dass das Schicksal ihm noch einmal einen Aufschub gewährt hatte. Es war ja auch gleich, in welchem Zustand ihn der Tod ereilte. Die fortschreitende Schwindsucht, so erfolgreich er sie hier in Meran bei der Unterkunftssuche auch hatte unterschlagen können, sie würde ihn früher oder später vermutlich das Leben kosten. Doch währte der Aufschub auch kurz, er würde ihn nutzen. Der Umzug vom Hotel zu seiner neuen Unterkunft, kaum einen Kilometer weiter, war ein erster richtiger Schritt gewesen. In der bescheidenen Pension Ottoburg verkehrte zwar niemand jüdischen Glaubens und es verging kaum eine Begegnung mit anderen Pensionsgästen, bei der man ihm das nicht irgendwie auf unschöne Weise spüren ließ. Auch interessierte sich die Wirtin zwar sehr für seinen Vegetarianismus, doch gerieten ihr die fleischlosen Gerichte lange nicht so gut wie im teuren Hotel Emma. Doch hier bewohnte er ein Zimmer im Hochparterre, das auf einen paradiesischen Garten hinausging, voller blühender Büsche, Singvögel und Eidechsen. Mit einer geschützten Loggia, auf der er unbekleidet sonnenbaden konnte. Und lesen und schreiben und nachdenken und die Seele fliegen lassen.
Die junge Bedienung aus dem Hotel hatte er nicht wiedergesehen und bald komplett vergessen. Zu frisch war seine Begeisterung für etwas, das ihm immer wichtiger erschien, ja, was ihn seinen desolaten Gesundheitszustand fast vergessen ließ: Dies war die Korrespondenz mit einer verwandten Seele. Dies war beglücktes Lesen und beseeltes Schreiben. Ja, es waren die Briefe. Briefe an Milena.